Abi 1946

Ostern 1938 wurde ich nach bestandener Aufnahmeprüfung in die Sexta des König-Wilhelm-Realgymnasium zu Höxter eingeschult. Ein gewaltiger Schritt damals, fast ein Kulturschock für einen 10jährigen Burschen von einem Bauernhof in Boffzen!

Wir waren zunächst 47 Buben, Mädchen gab es auf dieser Knabenschule noch nicht, aber zunächst noch Pennälermützen: Sexta grün, Oberprima weiß, jeder Jahrgang hatte seine Farbe. Ein Photo der Klasse in Quarta (3. Gymnasialjahr) zeigt noch 28 Schüler. Selbst wenn man annimmt, dass vielleicht einige auf dem Bild fehlen, zeigt es doch, wie erheblich "gesiebt" worden war.

Klasse 1938  vermutlich von 1940 Am 1. September 1939 begann der fürchterliche "Zweite Weltkrieg". Schon bald waren alle jüngeren Lehrer "zu den Waffen" gerufen. Auch Direktor Dr. Ludwig Hensel wurde eingezogen. Auf die verbliebenen Älteren kamen erweiterte Aufgaben zu. Stellvertretender Direktor wurde bis über das Kriegsende hinaus Oberstudienrat Hans Müller (Jambus). Bald kamen mit Anna Schubert, Fräulein Sigges und Ella Schmidtke die ersten weiblichen Lehrer an unser Gymnasium.

Während der Unterricht in den ersten Kriegsjahren noch einigermaßen normal lief, stellten sich ab 1941/42 zunehmende Schwierigkeiten ein. Etwa dadurch, dass die Schule in dem sehr kalten Winter 41/42 wegen Koksmangel geschlossen wurde und der Unterricht verkürzt und behelfsmäßig in der Katholischen Volksschule gehalten wurde, die damals noch mit Holzöfen beheizt wurde. Zwar wurde Höxter vom Bombenkrieg verschont, das schulische Leben wurde jedoch immer stärker durch Einflüsse von außen beeinträchtigt. Heilkräuter sammeln, Kartoffelkäfer suchen, Wehrertüchtigungslager für die oberen Klassen, "Kohleferien". Aus ausgebombten oder durch Vorrücken der Alliierten bedrohten Städte im Westen kamen Schüler in die Klassen, die immer wieder nach der geänderten Sachlage neu zusammengestellt wurden, ebenso wie der Unterrichtsstoff, dem Kontinuität fehlte. Ich habe in Chemie dreimal denselben Kram gelernt, es ging einfach nicht weiter.

1943 wurde die Klasse über mir (Gymnasiums-Eintritt 1937) zum Luftwaffenhelfer-Dienst an der Eisenbahnbrücke nach Meinbrexen-Wehrden eingezogen. Anfang Januar 1944 wurde auch ich zusammen mit Klassenkameraden des Jahrgangs 1928 ebenfalls nach Meinbrexen (Wehrdener Weserseite) befohlen. Wir schützten die Brücke, gemeinsam mit wenigen aktiven Flaksoldaten, mit 2 cm-Kanonen gegen Tieffliegerangriffe.

Schulunterricht fand dort in bescheidenem Rahmen in der Essensbaracke statt, nachmittags in Blockunterricht. Dazu kam der entsprechende Lehrer aus Höxter mit dem Bus bis Fürstenberg, von dort ca. 4 km zu Fuß bis in die Flakstellung, später hatte er denselben Weg zurück. Ich erinnere mich an Jambus (Müller) für Deutsch und Latein, an "Dackel Kemper" für Mathe und Chemie, an Studienrat Hebestreit für Geschichte und Erdkunde. Noch heute nehme ich den Hut ab vor diesen Männern, die bei jedem Wetter und bei kleiner werdenden Lebensmittel-Rationen diese Mühen auf sich nahmen. Häufig genug gab es Fliegeralarm, was zu sofortigem Abbruch des Unterrichts und zum Wettlauf an die Kanonen führte. Die Lehrer waren dann mal wieder "umsonst" gekommen.

Im Sommer 1944 wurde eine starke Flakeinheit (Halbbatterie) an der Corveyer Eisenbahnbrücke eingerichtet. Von dort konnten wir in etwa 20 Minuten in unser Gymnasium gehen. Alarm wurde so rechtzeitig ausgelöst, dass wir die Kanonen noch früh genug erreichten. Während meiner Zeit gab es zwei Tieffliegerangriffe durch Lightnings, das eine Mal sieben dieser Doppelrümpfer, die von uns erfolgreich abgewehrt wurden. Allerdings prallten unsere Geschosse von den Fliegern ab, weil empfindliche Bereiche, wie das gläserne cockpit, gepanzert waren. Erst später war jedes Dritte unserer Geschosse eine Panzergranate. - Die Bomben fielen weit neben Brücke und Bahnkörper.

Bei Kriegende waren wir fast alle Soldaten an irgendeiner Front, oder bereits in Kriegsgefangenschaft. Den Einen traf's härter, den Anderen weniger hart, aber zum Glück ist keiner der Klassenkameraden gefallen. Bis auf Karl Pampus sind auch die Lehrer zurückgekommen. Doch insgesamt haben etwa 280 ehemalige Schüler des KWG diesem sinnlosen Krieg ihr Leben geopfert.

Der so genannte Reifevermerk, den die Älteren (etwa 17 Jahre) bei Einberufung zum Wehrdienst als Aussicht auf Zulassung zum Studium erhielten, wurde nach Kriegsende von den Universitäten oft nicht anerkannt. Es galt, ein "echtes" Abitur zu machen. Die westfälische Schulverwaltung richtete Abiturkurse ein. Am KWG begann der erste im Februar 1946. Zu dieser Zeit lief schon ein halbwegs normaler Unterricht, der im Evangelischen Gemeindehaus in der Rodewieckstraße und an anderen Stellen gehalten wurde, weil das Gymnasium von Englischem Militär besetzt war.

Wir waren 13 Teilnehmer in diesem Kursus, die nun recht heftig zu büffeln hatten. Elf stammten aus der 1937er Klasse oder waren von Außen gekommen. Der pfiffige Jambus hatte erkannt, dass die Datumsvorgabe für die Zulassung zu dem Kursus ausgerechnet Elmar Maßmann und mir, den Jüngsten aus unserer Stammklasse von 1938, die Teilname ermöglichte.

Nach den diversen schriftlichen Prüfungsarbeiten wurde die mündliche Prüfung für Samstag, den 24. August 1946, früh 8:30 Uhr angesetzt. Es wurde spannend. Geprüft wurde in den Fächern Deutsch, Latein, Mathematik, Englisch. Prüfungskommission waren Oberschulrat Goldmann (Vorsitz), Dr. Hensel, Oberstudienrat Müller und der jeweilige Fachlehrer. Wir wurden zu Dritt vorgeladen. Abends um 21:30 Uhr war wegen der Sperrstunde zwangsweise Schluß der Prüfung.

Bei 13 Kandidaten war im Durchschnitt jeder eine ganze Stunde dran. Wir hatten alle bestanden. Wenn ich mir allerdings heute mein Zeugnis ansehe, muß ich sagen: So schlecht kann ich doch gar nicht gewesen sein! Jetzt wurde es ernst. Welchen Beruf will ich wählen? Wo bekomme ich an einer Universität in den zerbombten Städten einen Studienplatz? Wie geht es weiter?

Ein Schlaglicht auf die Zeiten wirft folgende kleine Geschichte: Kurz nach 21:30 Uhr konnten wir gehen. Um 22:00 Uhr war Sperrstunde der Militärregierung. Danach durfte niemand mehr auf der Straße sein, es wurde sehr schnell scharf geschossen. Ich konnte unmöglich den Noellenhof, mein Elternhaus, erreichen. Ich fand natürlich Unterschlupf bei Elmar Maßmann in der Wallgasse.

Abitur Jahrgang 1946: Obere Reihe von links: Sander(?), Arthur (Ditz) Diederichs, Klein(?), Helmut (Heppo) Wiesemeyer, Elmar (Mörchen) Maßmann, Otto-Konrad (Harry) Sagebiel, Franz-Josef (Männlein) Schulte, Matthias (Matscheck) Beine, Fritz Tölle. Untere Reihe von links: Kossmann(?), Ridder(?), Dr. Hensel, Hans Müller, Horst-Hans Grothe, Josef (Jüppchen) Wennemann

Außer dem schönen Erinnerungsfoto haben wir in den Tagen danach auch noch eine tolle abendliche Feier auf die Beine gekriegt. War schon was in dieser Zeit der mageren Lebensmittelkarten und Zigarrettenrationen. Letzteres schmerzte insbesondere den Kettenraucher Jambus sehr heftig!

Trotz, vielleicht auch wegen der vielen Kriegsschwierigkeiten gibt es schöne Erinnerungen an diese Schulzeit, an die Kameradschaft, an das Zusammenstehen. Dabei spielt die Erinnerung an Jambus, diesen begnadeten Lehrer Hans Müller, eine hervorragende Rolle. Der war sicherlich auch eine wertvolle, wenn auch unauffällige Hilfe in der politischen Positionierung von uns jungen Leuten im Nazistaat. Ich habe heute noch deutlich vor Augen, wie schwer es ihm fiel, beim Hissen der Hakenkreuzfahne vor den angetretenen Klassen zu Beginn jedes Schuljahres den Arm zum Hitlergruß zu heben und das "Horst-Wessel-Lied" zu singen.

Als der Zeitpunkt unserer Einberufung zum Wehrdienst nahe war, gab er uns den sehr wichtigen Rat, uns als Reserveoffiziersbewerber (ROB) zur Wehrmacht freiwillig zu melden, weil er wusste, dass man auf diese Weise die höchstwahrscheinliche Einberufung zur Waffen-SS vermeiden konnte. - Große und spürbare Zurückhaltung gegenüber dem herrschenden System war auch bei den meisten anderen Lehrern ganz offensichtlich. Offener Protest oder gar Widerstand wäre mit KZ und dem Tode bestraft worden.

Die Erinnerung an das Abitur vor nunmehr 60 Jahren wäre unvollständig, ohne Dank zu sagen jenem König-Wilhelm-Gymnasium von Höxter und seinen hervorragenden Lehrern, die allen Widrigkeiten zum Trotz unsere Erziehung zu erwachsenen Menschen so erfolgreich gefördert haben. Es schmälert dabei das Verdienst der anderen keineswegs, wenn ganz weit vorn unserem Jambus, dem unvergesslichen Hans Müller, ausnehmend respektvoller und warmherziger Dank dargebracht wird.


Dr. Ing. Arthur Diederichs aus Würzburg (Studium der Elektrotechnik an der TU Braunschweig, Tätigkeiten im Hause SIEMENS in Berlin und Würzburg, zuletzt in Leitender Stellung. Verheiratet, 4 Kinder)

aus dem OMNIBUS 2006